Fachkräftebedarf und Bildungsströme in Deutschland passen nicht zusammen. Berufliche Bildung braucht mehr Wertschätzung.
Muss Ihre Heizung repariert werden? Möchten Sie eine Solaranlage auf Ihrem Dach installieren? Oder brauchen Sie eine neue Brille mit veränderter Sehstärke?
Es ist ein gutes Gefühl, dass wir uns mit all diesen Anliegen an Profis wenden können. Profis aus dem Handwerk. Menschen, die wissen, was sie tun. Menschen, die Sinn und Erfüllung in ihrer Arbeit finden. Und ja: Menschen, die mit ihrem Können gutes Geld verdienen. Mit 650 Milliarden Euro machten Handwerksbetriebe 2020 mit ihren Beschäftigten mehr Umsatz als Apple, Facebook, Google und Tesla zusammen.
Und die Zukunftsaussichten sind gut. Die Nachfrage nach Handwerksleistungen ist groß. Denn groß sind die Herausforderungen, für die handwerkliche Produkte und Leistungen gebraucht werden. Schon heute müssen viele Kunden leider Wartezeiten in Kauf nehmen.
Wer ein Handwerk ausübt, muss sich wenig Sorgen um Arbeitslosigkeit machen. Die Arbeitslosenquote unter Handwerkerinnen und Handwerkern ist wesentlich geringer als in den meisten akademischen Berufen. Und auch wer sein eigenes Unternehmen führen möchte, findet im Handwerk die besten Voraussetzungen. Rund 70.000 Unternehmen werden im Handwerk jährlich erfolgreich gegründet und machen das Handwerk quasi zur Mutter aller Start-Ups.
Und jetzt stellen Sie sich bitte einmal vor, Ihr Kind möchte Handwerkerin oder Handwerker werden. Oder Ihre Enkelin, Ihr Schüler, jemand aus Ihrem Bekanntenkreis.
Würden Sie dieses Kind dazu ermuntern? Würden Sie es darin bestärken, seinen eigenen Interessen zu folgen und das zu tun, was es gerne tut? Und wenn nein: Warum nicht?
Warum ist es so, dass in unserem Land so viele Fachkräfte fehlen, obwohl die Zukunftsaussichten gerade im Handwerk rosig sind? Viele Betriebe haben nicht genug Personal, um mehr Aufträge anzunehmen oder diese zeitnah abzuarbeiten. Rund 250.000 Fachkräfte fehlen im Handwerk – Tendenz steigend. Hier stimmt etwas nicht. Und wenn wir diese Lücke nicht schließen, vergeben wir uns, unseren Kindern und unserem ganzen Land eine große Chance.
Dabei sind die Voraussetzungen doch eigentlich hervorragend. Handwerk liegt in der Natur des Menschen. Kinder entdecken ihre Umwelt ganz natürlich mit ihren Händen und verleihen ihren geistigen Ideen und ihrer Kreativität mit den eigenen Händen Ausdruck. Für die Entwicklung junger Menschen sind geistige und manuelle, praktische Fertigkeiten gleichermaßen wichtig. „Begreifen“ hat nicht umsonst nicht nur mit Verstand, sondern auch mit den Händen zu tun. Auch im Handwerk sind Kopf und Hände gleichermaßen gefordert. Hinter jedem Handwerk stecken komplexes Fachwissen, technisches Know-how und ständige Weiterentwicklung. Mit der Suche nach passgenauen Lösungen sind Handwerkerinnen und Handwerker Innovationstreiber.
Und: handwerkliche Tätigkeiten machen stolz und selbstbewusst. Es stimmt daher etwas nicht, wenn in unseren Schulen nur Wissen und nicht auch Können eine Rolle spielt und jungen Menschen damit der Weg ins Handwerk erschwert wird.
Es stimmt auch etwas nicht, wenn in der Schule die duale Berufsorientierung zu kurz kommt. Damit schneidet sich unser Land ins Fleisch. Über die Hälfte unserer neuen Schulabgänger/- innen hat inzwischen Abitur. Tendenz steigend. Das ist gut so. Aber diesen jungen Menschen muss auch vermittelt werden, dass eine berufliche Ausbildung genauso viel wert ist wie eine Akademische.
Wir müssen es gemeinsam schaffen, dass wieder mehr junge Menschen den Weg ins Handwerk finden. Es braucht ein gesamtgesellschaftliches Umdenken, um diesen Berufen ihre verdiente Anerkennung entgegenzubringen. Die berufliche Ausbildung kann nur attraktiv bleiben, wenn junge Menschen hier wirkliche Wertschätzung erfahren und spüren, wie wichtig sie für die Zukunft des Landes sind. Denn genau das sind die Handwerkerinnen und Handwerker.
Wir stehen vor großen Aufgaben beim Klimaschutz, bei der Digitalisierung, bei der Modernisierung der Infrastruktur und im Wohnungsbau, bei ressourcenschonendem Leben und Arbeiten generell – und diese Aufgaben können nicht einfach warten. Die Welt verändert sich, weil sie es muss. Diese Veränderungen stellen uns vor immer größere Herausforderungen. Wir brauchen nachhaltige Infrastrukturen, Technologien und Ideen – und Menschen, die diese umsetzen. Unser Land braucht mehr Handwerk. Unser Land braucht mehr junge Menschen, die etwas tun, das Sinn stiftet und erfüllend ist. Menschen, die für das, was ihnen wichtig ist, ganz praktisch in ihrem Beruf eintreten. Die ihre Zukunft und die Zukunft unseres Landes in die Hand nehmen.
Als Macherinnen und Macher.
Es ist höchste Zeit, umzudenken.
- Es ist höchste Zeit, mit alten Klischees aufzuräumen und zu erzählen, wie zukunftssicher, innovativ und anspruchsvoll Handwerk ist.
- Es ist höchste Zeit, den Gymnasiast/-innen und Abiturient/-innen das Studium nicht länger als den einzig erstrebenswerten Weg ins Berufsleben zu vermitteln.
- Es ist höchste Zeit, jetzt aufzuklären über Karrierewege, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Sicherheit und Erfüllung im Handwerk.
- Es ist höchste Zeit, Respekt zu zeigen vor praktischen Fertigkeiten und fachlichem Wissen, genauso wie vor einer akademischen Bildung.
- Es ist höchste Zeit, berufliche und akademische Bildung mit Exzellenzstrategien und Förderungen gleichwertig zu behandeln, am besten auf gesetzlich verankerter Basis. Denn jede noch so gute Theorie bleibt grau ohne die Menschen, die sie praktisch umsetzen.